Grenzen auf für Flüchtlinge und Fluchtursachen bekämpfen!

Tausende Menschen sind auf dem Weg in die EU, um ihr Recht auf sicheres Leben und Perspektive einzufordern. Sie finden Zustimmung in Teilen der Bevölkerung, die Flüchtlinge willkommen heißt und auf unterschiedlichste Weise unterstützt. Slogans wie „Grenzen auf für Flüchtlinge“ oder „Kein Mensch ist illegal“ sind weiter verbreitet als je zuvor. Trotzdem herrscht viel Unsicherheit, ob diese Forderungen sinnvoll sind. Die Migrationspolitik der EU befindet sich in einer Krise – einerseits getrieben durch die Bewegung und andererseits durch das erklärte Ziel, die Grenzen zur EU geschlossen zu halten, kommt es zu widersprüchlichen Entscheidungen. Immer öfter werden in den Medien Fluchtgründe thematisiert, denn viele Menschen fragen sich, wieso ausgerechnet jetzt so viele auf dem Weg nach Europa sind. Die Außenpolitik der EU ist eine Ursache dafür, warum Millionen Menschen auf der Flucht sind – und Österreich ist mit dabei!

 

Flüchtlingsbewegung und „Willkommenskultur“

 

Die Bilder und Berichte aus Traiskirchen, welche das Chaos bei Verpflegung und Betreuung zeigten, wurden abgelöst von den Schlagzeilen um die 71 toten Flüchtlinge, die in einem LKW gefunden wurden. Das Sterben der Flüchtlinge durch die Grenzen Europas war ins geographische Zentrum der EU gerückt. Obwohl in den vergangenen Jahren tausende Flüchtende im Mittelmeer gestorben sind, scheinen erst mit dieser Katastrophe die Menschen in Mitteleuropa Verständnis und tatkräftiges Interesse zu zeigen. Politiker_innen mussten handeln, wenn sie nicht noch mehr Tote in Kauf nehmen und Proteste riskieren wollte. Als Deutschland in Aussicht stellte, das Dublin III-Abkommen für syrische Flüchtlinge auszusetzen, stürmten Tausende noch vehementer die Grenze zu Ungarn. Es blieb schließlich nichts weiter übrig, als die Grenzen zu öffnen. Flüchtlinge fuhren wie selbstverständlich, mit Zügen aus Budapest über Wien nach Deutschland. Kontrollen waren nicht mehr möglich. Das Dublin III-Abkommen brauchte gar nicht erst den Weg über bürokratische Hürden nehmen – die Menschen selbst setzten es außer Kraft und zwangen die Regierungen zum Handeln.

Die Ankunft Zehntausender Personen war und ist eine Herausforderung für Staaten, die kein Interesse an dem Wohlergehen von Menschen haben. Infrastruktur für Verpflegung, Unterkunft und Betreuung waren kaum oder nicht vorhanden. Behörden vor Ort fühlten sich überfordert und im Stich gelassen. Eine Welle von Solidarität und Hilfsbereitschaft tausender Privatpersonen wurde losgetreten. Angeführt von denjenigen, die zum Beispiel schon im Erstaufnahmelager Traiskirchen die Verhältnisse zu verbessern suchten oder schon länger für die Aufnahme von Asylwerber_innen in ihren Gemeinden arbeiteten, bildeten sich schnell Netzwerke, die sich um die Ankommenden so gut es geht kümmerte.

Der 31.08.2015 in Wien wird vielen im Gedächtnis bleiben: Hunderte Flüchtlinge in den ersten vollen Züge aus Ungarn trafen auf die Hilfe der freiwilligen HelferInnen; gleichzeitig demonstrierten mehr als 20.000 Menschen unter dem Motto „Mensch sein in Österreich“ für sichere Fluchtwege und menschenwürdige Aufnahme. An diesem Tag fanden Flüchtlingsbewegung und Antirassistische Bewegung in Wien zusammen.

Eine weitere Steigerung erfuhr die Bewegung mit dem „Konvoi Budapest Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge“ vom 06.September, als ca. 140 Autos geschlossen Richtung Ungarn fuhren und Flüchtlinge nach Österreich brachten. Auch die Warnung, wegen „Schlepperei“ in Ungarn verhaftet zu werden, konnte den Konvoi nicht aufhalten. Dem Beispiel des Konvois folgten weitere; einige führten sogar bis an die serbische und kroatische Grenze. Gemeinsam werden Gesetze gebrochen mit der Begründung, dass Rettung von Menschenleben wichtiger ist als die Einhaltung von Gesetzen, die nur illegale und nicht sichere Fluchtwege zulassen.

Seit einem Monat hält die Welle der Solidarität an; begleitet von Veranstaltungen und Demonstrationen. Ohne die vielen Spenden von Privatpersonen wäre die auch jetzt noch lückenhafte und unzureichende Versorgung überhaupt nicht möglich. Rotes Kreuz und Caritas sind zwar präsent, aber auch sie bauen auf die Hilfe von Freiwilligen. Viele fragen sich, was ist eigentlich mit dem Staat los? Warum nur immer große Reden – aber praktisch passiert nichts?

 

Versagen oder bewusste Verschärfung?

 

Schon im Frühjahr vermittelten die Nachrichten über die unmenschlichen Bedingungen im Erstaufnahmelager Traiskirchen den Eindruck, dass die Innenministerin Mikl-Leitner mit der Situation hoffnungslos überfordert war. Wie sonst erklärt es sich, dass nichts gegen die ständige Überbelegung, mangelndes Essen und Betreuung unternommen wurde? Dass Menschen in Zelten und unter freiem Himmel kampieren müssen? Und das in einem Land wie Österreich, dass jedes Jahr Millionen von Touristen versorgen, unterbringen und unterhalten kann. Aber ist Mikl-Leitner wirklich überfordert? Einleuchtender ist die Erklärung, dass die Regierung ihre menschenfeindliche Asylpolitik legitimieren möchte: Bilder aus Traiskirchen finden alle schlimm, aber “leider leider können wir eben nicht alle aufnehmen – Österreich kann nur begrenzt belastet werden”.

Gleichzeitig wird mit Begriffen, wie „Flüchtlingswellen“, „Völkerwanderung“, „Flüchtlingskrise“ oder „Notsituation“ ein Bild geschaffen, das an Naturkatastrophen erinnert; ausgelöst durch die Flüchtlinge selbst. Das Ergebnis sind Debatten über Verschärfung des Asylrechts, Militäreinsätze im Mittelmeer und an den Grenzen der EU. Die FPÖ will eine „Österreicher zuerst“-Volksbefragung starten. Es wird vor allem ein Bild der Ohnmacht und Machtlosigkeit und sogar Bedrohung gegen diesen „Strom“ an Flüchtlingen geschaffen. Dieses Bild ist insofern absurd, wenn man bedenkt, dass nur ein minimaler Teil aller Flüchtlinge in Europa um Asyl ansuchen. Staaten wie die Türkei, Libanon und Jordanien nehmen um ein Vielfaches mehr Flüchtlinge auf als die gesamte Europäische Union zusammen.[1]

Bis zum August konnte man von einem bewussten „Versagen“ der Politik sprechen – mit der Flüchtlings- und Solidaritätsbewegung hat sich einiges verändert. Regierungen waren gezwungen, darauf einzugehen und die Grenzen zu öffnen. Sobald sich die Chance bot, wieder die Kontrolle über die Grenzen zu bekommen, wurden diese mit scheinheiligen Argumenten auch ergriffen. Beispiel Einsatz Bundesheer: Wochenlang schaffte es das Bundesheer nicht, Notunterkünfte an der Grenze zu errichten – warum auch; HelferInnen waren ja vor Ort und konnten sich mit den schlechten Bedingungen herumschlagen und die Tausenden, die täglich über die Grenze kamen, hätte auch das Bundesheer nicht aufhalten können. Als Ungarn die Grenze zu Serbien schließen konnte und nun der Weg über Kroatien und Slowenien führt, taucht das Bundesheer auf – in voller Ausrüstung und mit scharfer Munition. Natürlich nur für humanitäre Hilfe und für „Ordnungsdienste“. Geld spielt dabei keine Rolle, wie Verteidigungsminister Klug erwähnt: “In der jetzigen Stunde sollten wir uns nicht zu intensiv mit der Frage der Finanzen auseinandersetzen. Es geht jetzt darum, dass das österreichische Bundesheer nicht nur den NGO, sondern auch den Sicherheitsbehörden als Sicherheitsnetz zur Seite steht.”

Aber auch im Kleinen möchte der Staat nicht die Kontrolle verlieren und baut bürokratische Hindernisse auf. Fast täglich kam es angesichts der Zustände in Traiskirchen zu Angeboten von Aushilfsquartieren, die allesamt aus absurdesten Gründen abgelehnt werden. NGOs wurden teilweise daran gehindert die Situation zu verbessern, Menschen, die ihre Privatwohnungen für Flüchtlinge freistellen wollen, müssen einen bürokratischen Hürdenlauf vollziehen. Es wurde alles getan um die Situation weiter zu verschärfen und Flüchtlinge daran zu hindern, zu viel Kontakt zur Bevölkerung zu bekommen. Das Zusammenkommen von Flüchtlings- und Solidaritätsbewegung hat auch hier dazu geführt, dass die staatliche Bürokratie mehr zulassen muss, aber nach und nach werden private Initiativen zurückgedrängt und durch staatlich kontrollierte Institutionen ersetzt; zum Beispiel wurde das Material der „Westbahnhof Volunteers“ über Nacht weggeräumt, so dass die Gruppe nicht weiterarbeiten konnte.

Besonders scheinheilig sind Besuche und Handshakes der Regierungsmitglieder am Wiener Westbahnhof oder in Nickelsdorf – verbunden mit vielen Danksagungen. Dabei ist die Politik genau dieser Regierung mit dafür verantwortlich, dass einerseits Millionen Menschen flüchten müssen und dass andererseits die Mittel für Asylwerber_innen nicht ausreichen. Gerade einmal 200.000 € mehr sollen aufgewendet werden – die Übernahmen der Schulden der Hypo Alpe Adria dagegen kosten einige Milliarden.

Abseits davon und weit weniger im Fokus wird auch von staatlicher Seite dafür gesorgt, dass private Unternehmen von der Situation der Flüchtlinge Gewinne machen können. Beispielweise ist es für Asylwerber_innen quasi unmöglich, einen legalen Job zu bekommen. Das führt zu Lohndumping bei den Jobs, die verfügbar sind und zu unsicheren Arbeitsverhältnissen in der Schwarzarbeit. Ebenso profitieren Firmen direkt von Aufnahmelagern: Der Gewinn der Betreiberfirma des Erstaufnahmelagers Traiskirchen – die Schweizer Firma ORS – betrug 2013 bei 600.000 Euro.[2]

 

Fluchtursachen und Verantwortung

 

Schon lange wird verbreitet, dass viele Menschen vor dem IS-Terror flüchten, ohne den Krieg in Afghanistan und Jemen, die Anschläge im Irak oder die Drohnenangriffe in Pakistan zu erwähnen. Inzwischen wird sogar in den Hauptnachrichten eine weitere Fluchtursache benannt: Das Leben in den Massenflüchtlingslagern im Libanon oder in Jordanien ist furchtbar – keine festen Unterkünfte und nun kürzt sogar noch das UN-Flüchtlingshilfswerk die Mittel für die Ernährung fast um die Hälfte. Richtig ist, dass sich viele Menschen fragen, was denn noch zu verlieren sei angesichts der Wahl den lebensgefährlichen Weg nach Europa zu gehen oder in einem Lager dahinzuvegetieren ohne Aussicht auf Rückkehr in die Heimat. Falsch ist, mit diesen Tatsachen von den eigentlichen Ursachen und Verantwortlichkeiten abzulenken. Das Hauptproblem scheint nun zu sein, dass einige Staaten nicht genug „spenden“, damit das Leben in den Lagern erfreulicher wird. Auf diese Staaten – wie Saudi-Arabien oder Frankreich – kann jetzt prima geschimpft werden.

Doch die aktuelle Situation wird unter anderem verursacht durch die Außenpolitik der EU. Die EU ist einer der wichtigsten Global Player im Konkurrenzkampf um Ressourcen und Einflusssphären. Kriege und militärische Interventionen im arabischen Raum haben ein Chaos hinterlassen. Andreas Babler, Bürgermeister von Traiskirchen, stellt den wichtigen Bezug zum Entstehen des Islamischen Staates (IS) her. In der Neuen Züricher Zeitung heißt es: „Wenn er sich für die Belange der Flüchtlinge einsetzt, dann tut er das auch aus der Überzeugung, dass es sich dabei um Opfer weltpolitischer Verwerfungen handelt, an denen der Westen mitschuld sei: durch den NATO-Krieg in Afghanistan oder den Einmarsch der USA im Irak, der den Aufstieg des Islamischen Staates begünstigt hat.“[3]

Kriege können nur mit Waffen geführt werden und Österreich ist da nicht untätig, 2010 – vor dem arabischen Frühling – wurden Waffen in Länder wie Libyen, Tunesien, Ägypten oder Saudi Arabien verkauft.[4] Zwar müssen die Absatzländer sogenannte Endverbrauchererklärungen unterschreiben, um einen Weiterverkauf zu verhindern, diese sind aber laut Patzelt (Amnesty International) „nicht mehr wert als Klopapier. Ein gutes Geschäft für österreichische Firmen hat noch immer Vorrang vor der Einhaltung von Menschenrechten.” Somit sollte es nicht überraschen, dass Bilder von IS-Kämpfern mit österreichischen Waffen aufgetaucht sind. Die europäischen Regierungen haben die Kriege und bewaffneten Konflikte im Nahen und Mittleren Osten mitzuverschulden.

Kriege sind nicht die einzigen Fluchtursachen. Mit der EU werden Abkommen zur Wirtschaftsliberalisierung durchgesetzt, welche die Lebensgrundlage vieler Menschen in den „Partnerländern“ zerstört und damit ein Fluchtgrund sind.

 

Festung Europa überwinden

 

Reibungslos läuft diese Außenpolitik nicht ab. Mit 60 Millionen weltweit sind so viele Menschen wie noch nie auf der Flucht, doch gerade ein Bruchteil kommt an dem brutalen Grenzregime vorbei nach Europa. Für diese werden mit den Asylgesetzen immer höhere und höhere Hürden aufgebaut.

Warum soll verhindert werden, dass Menschen in Europa eine sichere Zukunft suchen? Die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen würde bedeuten, die Verantwortlichen zu konfrontieren. Es würde zunehmend veranschaulichen, warum Menschen fliehen. Es würde aus erster Hand bekannt werden, mit welchen Waffen gekämpft wird, welche Konzerne sich die Rohstoffe aneignen, wie Liberalisierung sich auf Lebensperspektiven auswirkt. Genau das passiert jetzt zum Teil: Tausende Flüchtlinge berichten den unzähligen HelferInnen über tatsächlich herrschende Zustände in Syrien und in den Flüchtlingslagern.

Ein weiterer Konflikt wäre, dass Millionen Flüchtlinge mit Arbeitsplätzen, Wohnung und Bildungsmöglichkeiten versorgt werden müssen. Das Geld würden sicherlich nicht Konzerne und Banken aus ihren Profiten zahlen. Damit würde riskiert werden, Auseinandersetzungen um die Verteilung von Reichtum zu führen. Eine geringere Anzahl von Flüchtlingen kann besser kontrolliert werden; die Schaffung eines rassistischen Klimas wird begünstigt mit der Angst, dass „uns“ etwas weggenommen wird.

Festung Europa überwinden muss heißen: Grenzen auf für alle Flüchtlinge! Es muss aber auch heißen, über die Solidaritätsarbeit hinauszugehen und politische Forderungen stellen und durchsetzen im Sinne einer gerechten Verteilungspolitik. Darüber können Flüchtlingsbewegung und Solidaritätsbewegung enger zusammenkommen. Flüchtlinge müssen sich nicht bedanken für die Almosen, die ihnen von Politik und Wirtschaft zugestanden werden – ihnen steht noch viel mehr zu. Ebenso müssen die freiwilligen HelferInnen nicht alles aus der eigenen Tasche bezahlen, sondern müssen diejenigen konfrontieren, die von Krieg und Liberalisierung profitieren.

Die Flüchtlingsbewegung und die Welle der Solidarität hat die Festung Europa ins Wanken gebracht, aber mit Hilfe einer alarmierenden Berichterstattung und zunehmenden repressiven Maßnahmen an den Grenzen bekommt sie wieder mehr Stabilität. Es kommt darauf an, die Bewegung zu politisieren in dem Verantwortliche konfrontiert werden anstatt auf die schönen Reden der Politik zu vertrauen. Es muss diskutiert werden, welche Interessen den syrischen Krieg erzeugen und am Laufen halten. Und ebenso muss die Forderung nach Finanzierung von Wohnung, Gesundheit und Bildung gestellt werden – das betrifft alle, nicht nur Flüchtlinge, und das ist die Art von Solidarität, die wir hier in Österreich leisten können.

 

 

 

 

 

[1] Laut UNHCR sind die sechs größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen: Türkei (1,59 Mio), Pakistan (1,51 Mio), Libanon (1,15 Mio), Iran (0,9 Mio), Äthiopien (0,66 Mio) und Jordanien (0,65 Mio). Im ersten Halbjahr 2015 haben in der Europäischen Union rund 430.000 Menschen um Asyl angesucht. [Quelle: UNHCR: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/fluechtlinge/zahlen-fakten.html] In Österreich haben im ersten Halbjahr 2015 rund 37.000 Menschen um Asyl angesucht [Quelle: BM.I: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Asylwesen/statistik/files/2015
/Asylstatistik_Juli_2015.pdf
]

[2] Quelle: http://www.vol.at/wie-in-traiskirchen-ors-uebernimmt-auch-in-vorarlberg-fluechtlingsbetreuung/4398168

[3] NZZ: https://nzz.at/s/XvIJ0-l3yP/ [17.9.2015]

[4] Quelle: Der Standard: http://derstandard.at/1297820353498/Radpanzer–Co-Oesterreich-bei-Waffen-Exporten-auf-Rang-25 [17.7.2015]

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