15 Thesen zur gegenwärtigen Hochschule und den Kämpfen von Studierenden

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„…man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ – K. Marx

Studierende waren im letzten Jahrzehnt weltweit ProtagonistInnen von Kämpfen im Hochschulsektor. Diese entzündeten sich in bestimmten Momenten zu Massenbewegungen, die nicht nur die Autorität von RektorInnen und bildungspolitische Regierungsbeschlüsse herausforderten, sondern die gesamtgesellschaftliche Opposition gegen die herrschende Politik katalysierten und Zentren radikaler Kritik des neoliberalen Einheitsdenkens wurden. Italien 2005/2008/2010, Frankreich 2006, Kroatien 2009, Österreich 2009, England 2010, Chile 2011, Quebec 2012…: die Liste lässt sich um einiges verlängern. Am Höhepunkt solcher Revolten mobilisierten sich nicht nur StudentInnen, sondern verschiedene Menschen gegen Prekarisierung, Sozialabbau, Ungleichheit, gegen die Herrschaft des Profits und für eine solidarischere Gesellschaft. Hier und da machte die regierende Hand der Studierendenschaft letztendlich kleine Zugeständnisse, um solchen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen und es nicht noch weiter kommen zu lassen. Studierendenbewegungen sind heutzutage sicherlich ein Schreckgespenst reformeifriger Regierungen, die Kürzungen und Verschärfungen umsetzen wollen.

Nicht immer waren diese Bewegungen erfolgreich. Dies hat freilich heute vor allem mit einem schwierigen gesellschaftlichen und politischen Kontext zu tun. Um sich diesem effektiv zu stellen, müssen sich StudentInnenproteste aber auch über eigene Beschränkungen hinwegsetzen. Oft litten sie an Orientierungslosigkeit und an fehlender Debatte um Ziele und Strategien. „Was wollen wir, und wie erreichen wir es?“. Es mangelte an dem, was man Selbsterkennung nennen könnte: „In was für einer Welt sind wir, und wer sind wir wirklich?“. Hier wurde wiederum die Zeche für das mitunter jahrzehntelange Fehlen politischer Organisierung an der Uni gezahlt. Obwohl z.B. hierzulande die Linke selbst zum Großteil aus Studierenden besteht, interessierte sie sich kaum für die Lage dieser sozialen Gruppe, hielt die Hochschule auch nicht wirklich für einen Ort des politischen Konflikts und beschränkte sich im Wesentlichen darauf, dort „politisierte“ Studierende für ihre Initiativen „abzuholen“. Die Studierendenrevolte, die 2009 mit der Besetzung des Audimax der Uni Wien losgetreten wurde (unibrennt), war dementsprechend für die meisten eine Überraschung. Was es zum entscheidenden Zeitpunkt braucht, ist eine konsolidierte politische Praxis des studentischen Subjekts, ausgehend von seinen materiellen Bedürfnissen. Dies setzt ein Verständnis von den Widersprüchen in der gegenwärtigen Universität und Gesellschaft voraus. Mit den folgenden Thesen wollen wir zu dieser Perspektive beitragen.

WAS SIND (WAREN) STUDENTiNNEN?

Erstens. StudentInnenrevolten sind kein neues Phänomen. 1848 bis 1968, von Mexiko-Stadt bis Tian‘anmen in China,… oft standen „StudentInnenunruhen“ am Beginn von politischen Krisen und historischen Umbrüchen. Die marxistischen Klassiker (bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) bemühten sich, deren Rolle als dynamisches Element in Krisensituationen zu deuten: wenn die Bourgeoisie nicht mehr imstande ist, die Probleme zu lösen, die aus der Krise der kapitalistischen Gesellschaft entstehen und das Proletariat noch nicht vermag, diese Aufgabe zu übernehmen, so seien es oft Studenten bzw. die „kleinbürgerliche Jugend“, welche die Bühne betreten und einen Ausweg nach vorne suchen. Die Radikalität dieses Subjekts erklärte sich allerdings nicht einfach aus seiner „Intelligenz“ oder aus seiner Bildung, sondern aus einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung, die sich als „marginal“ bezeichnen ließe. Leo Trotzki schrieb etwa 1910:

Im Gegensatz zu dem jungen Arbeiter wie auch zu seinem Vater erfüllt der Student keinerlei gesellschaftliche Funktionen, spürt keine unmittelbare Abhängigkeit vom Kapital oder vom Staat, ist durch keinerlei Verpflichtungen gebunden und ist – mindestens objektiv, wenn nicht subjektiv – frei in der Erkenntnis von Gut und Böse. In dieser Periode gärt es noch in ihm, seine klassenmäßigen Vorurteile sind noch ebenso unausgeformt wie seine ideellen Interessen, Fragen des Gewissens erheben sich vor ihm mit besonderer Kraft, und erstmals öffnet sich sein Denken den großen wissenschaftlichen Zusammenfassungen; das Außerordentliche wird für ihn fast zu einem physiologischen Bedürfnis.“[1]

StudentInnen sind Intellektuelle am Rande der etablierten Schicht der „Gebildeten“. Sie gehören noch nicht dazu, weil sie noch in Ausbildung sind und sich erst einen Platz in der Gesellschaft erkämpfen müssen. Sie sind noch SchülerInnen, die hoffen, eines Tages MeisterInnen zu werden und den Status einer „leitenden Führungsperson“, „WissenschaftlerIn“, „ExpertIn“ oder sonst einer Art von Intellektuellen zu erreichen. Diese vorübergehende soziale Position kann historisch die Tendenz der StudentIn zur Unangepasstheit und zur Kritik der herrschenden Verhältnisse erklären.[2] Die Konzentration an einem Ort und dessen gemeinsame Nutzung, bzw. der Universitätsbetrieb selbst, wirken sich zudem homogenisierend auf die Vielzahl von Studierenden aus (die ansonsten weder ihrer sozialen Herkunft noch ihrer Zukunft nach homogen sind) – und machen aus ihnen ein organisierbares soziales Subjekt.

Zweitens. „Marginale Intellektuelle“ leben oft, aber nicht immer, unter ähnlichen Bedingungen wie andere „marginale“ Teile der Gesellschaft. Das Wesentliche ist aber, dass unterschiedliche marginale Subjekte einen gemeinsamen Horizont entwickeln können, weil sie die Gesellschaft aus einem ähnlichen Blickwinkel, als „AußenseiterInnen“ betrachten.[3] Die Bewegung von 1968, in der StudentInnen eine zündende Rolle spielten, wäre somit als Moment der „Verschmelzung der Horizonte“ zwischen den StudentInnen und jener ArbeiterInnenklasse zu deuten, welche sich im Aufstieg befand, Trägerin fortschrittlicher Werte war und imstande, kulturelle Hegemonie auszuüben. Die rebellierenden Studierenden begriffen sich recht schnell in der Tradition der ArbeiterInnenbewegung und des Marxismus und trugen zu deren Erneuerung bei. Diese Verbindung reichte bis hin zur Identifizierung, wo sich StudentInnen als Teil der ArbeiterInnenbewegung sahen (oder zumindest politisch im Sinne der ArbeiterInnenklasse aktiv wurden). Im Gefolge von 1968 verließen ganze Generationen politisierter Studierender das Kampffeld Universität, um sich im Rahmen politischer Organisationen der Organisierung des Industrieproletariats und der erwarteten bevorstehenden gesellschaftlichen Umwälzung zu widmen.

Drittens. Wenn die Dimension der „marginalen Intellektualität“ auch in der heutigen Studierendenschaft eine schwer zu übersehende Dimension ist, so hat sich die Universität dennoch stark verändert, seit sie die „letzte Etappe der staatlich organisierten Ausbildung der Söhne der besitzenden und herrschenden Klassen“ (Trotzki) war. Genau genommen war sie das 1968 auch schon nicht mehr. Die Schulbildung hatte begonnen sich auszuweiten („Bildungsexpansion“) und zunehmend klopften Kinder aller sozialen Klassen an die Pforten der Universitas; die Anzahl immatrikulierter Studierender hörte nicht mehr auf zu wachsen. Waren etwa im Wintersemester 1955/56 noch knapp 15.000 inländische Studierende an Österreichs Universitäten inskribiert, so hatte sich diese Anzahl fünf Jahre später bereits verdoppelt und ist bis heute (WS 2013/14) um mehr als das dreizehnfache, auf 204.000 gestiegen.[4] Eine vergleichbare, wenn nicht drastischere Entwicklung ereignete sich auch in den anderen hochkapitalistischen Ländern: in den OECD-Ländern etwa hatten 2012 im Durchschnitt bereits 40% der 25- bis 34-jährigen einen Hochschulabschluss.[5] Am Ursprung dieser Entwicklung standen einerseits die Reaktionen „aufgeklärter“ Teile der herrschenden Klassen seit den 1960er Jahren auf die veränderten Erfordernisse kapitalistischer Akkumulation: Die Beschleunigung technologischer Innovation im Kontext verschärfter Konkurrenz machten einen entsprechend geeigneten Forschungssektor sowie ein Ausbildungssystem notwendig, das ausreichend höher qualifizierte Arbeitskräfte für einen rasch anwachsenden Dienstleistungssektor bereitstellte. Der Zustrom in die Universität entsprang aber andererseits auch dem Druck der unteren Klassen hin zu besseren Lebensbedingungen. Der Zugang zu Bildung war seit jeher Bestrebung und politische Forderung des Proletariats, welches ja auch durch seine einseitige Ausbildung an seine Lage gefesselt war. Zwar waren ArbeiterInnentöchtern und -söhnen auf ihrem Ausbildungsweg nach wie vor alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt und rekrutierten die Universitäten zunächst bevorzugt Kinder von Angestellten, TechnikerInnen, FunktionärInnen und BäuerInnen. Die Universität konnte aber trotzdem nicht mehr auf dieselbe Art wie zuvor weiterbestehen. Sie geriet in den Strudel gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, in denen sie auch zu einer neuen Rolle finden sollte. Wenn sich die Öffnung und Modernisierung der Universität in den 1960ern und 1970ern zwar im Rückblick gerne als harmonische Epoche der Reformen verklären lässt, so war in Wirklichkeit gerade ab diesem Moment die Universität vom Konflikt zwischen unterschiedlichen Projekten geprägt, die entgegengesetzten Klasseninteressen entsprachen. Wenn 1968 eine Zuspitzung des Klassenkampfes war, der verschiedene Sphären der Gesellschaft von der Fabrik bis zur Kultur umfasste, so hatte er sich insbesondere auch der Universität bemächtigt.[6] Die Dynamik, welche zum studentischen 1968 und darüber hinausführte, war – zumindest in Westeuropa –eine des Konfliktes: auf der einen Seite, die Forderung nach Demokratisierung der Bildung; auf der anderen, jene „technokratische“ Reform der Hochschule, welche sich erst Jahrzehnte später durchsetzen und über den Bologna-Prozess ihre bis dato vollendeteste Gestalt erhalten sollte.

DEMOKRATISIERUNG VS. KAPITALISTISCHE MODERNISIERUNG

Viertens. Die veränderte soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft zeitigte rasch politische Auswirkungen. In der entstehenden Massenuniversität verloren studentische Korporationen an Einfluss, linke Kräfte gewannen an Terrain, reaktionäre Burschenschaften wurden zurückgedrängt. Kampf um Demokratisierung bedeutete einerseits Kampf gegen Selektionsmechanismen: Schulen und Universitäten sollten allen frei zugänglich sein; ungleiche Chancen möglichst eingeebnet werden, etwa durch den Ausbau des Stipendienwesens. Es bedeutete aber auch die Infragestellung des Wissens, welches die „Ordinarienuniversität“ produzierte und lehrte. Die alte „Humboldt’sche“ Universität, der auch heute noch so mancher ProfessorIn nachtrauert, war der Ausbildung staatstragender Eliten verpflichtet. Die „Freiheit der Wissenschaft“ innerhalb ihrer Mauern unterlag in Wirklichkeit einer bestimmten Idee praxisferner, klassischer „Bildung“, die den Erhalt der (bürgerlichen) sozialen Ordnung gewährleisten sollte und über die eine Aristokratie in Talaren mit ihrer Autorität wachte. In der Massenuniversität ergriffen aber nach und nach auch jene das Wort, die bis dahin nie dazu befugt gewesen waren und erzählten ihre Gegengeschichten. Die StudentInnenbewegung um 1968 forderte ein Wissen ein, das sich den aktuellen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen stellte und emanzipatorischen Ansprüchen gerecht werden sollte – und versuchte dies in Experimenten wie der „Kritischen Uni“ (Berlin), der „Università negativa“ (Trento) oder der „Université Rouge“ (Paris) zu verwirklichen. Die neue Frauenbewegung lieferte den Anlass für die Etablierung einer Frauenforschung – und in weiterer Folge Geschlechterforschung – welche in den verschiedensten Disziplinen die Unzulänglichkeiten einer Wissenschaft aufdeckte, die seit Ewigkeiten ausschließlich von Männern betrieben worden war. Und so weiter. Die Perspektiven von Unterdrückten, Kolonisierten, Ausgebeuteten, Stigmatisierten, Anteillosen trugen dazu bei, jenes Prinzip einer ganzheitlichen universitären Bildung und jene hierarchische Organisation des Wissens zu zerlegen, welche (im deutschsprachigen Raum) unter dem Namen „Humboldt“ firmiert. Zugleich gingen von der Demokratisierung der Universität fortschrittliche Impulse in verschiedene gesellschaftliche Bereiche aus.

Fünftens. Wenn der Druck dieser ‚popularen‘ Klassen die Ordinarienuniversität in die Krise stürzte, so lagen dieser Krise auch veränderte Erfordernisse hochkapitalistischer Gesellschaften zugrunde. Die Bildungsreform, welche die Universitäten modernisieren sollte, war Ausdruck eines Staates, der in immer mehr gesellschaftliche Bereiche auf immer umfassendere Weise planend und regulierend eingreifen muss, um möglichst geeignete Rahmenbedingungen für die kapitalistische Akkumulation zu schaffen. Unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz seit den 1960er-Jahren war Innovation eine Überlebensbedingung der Unternehmen, und ein steigender Anteil ihrer Profite musste für die Entwicklung neuer Produkte, neue Produktionsmethoden und die Vermarktung investiert werden. Dies erforderte eine möglichst effiziente „Technologisierung“ wissenschaftlicher Erkenntnisse und die wachsende Ausdifferenzierung aller möglichen Teilfunktionen des Produktionsprozesses (Logistik, Marketing, Finanzspekulation, Design, …) zu spezialisierten Dienstleistungsberufen.[7] Stets im Wandel begriffene Produktionssysteme sparten einerseits tendenziell nichtqualifizierte manuelle Arbeit ein, erforderten aber andererseits Personal mit ausreichend spezifischen Kenntnissen, um diese Systeme zu steuern und zu warten. Und über den warenproduzierenden Sektor hinaus waren qualifizierte Köpfe in allen möglichen Bereichen gefragt, die die gesellschaftliche Reproduktion gewährleisteten. Der neue Bedarf der kapitalistischen Gesellschaft nach „Intelligenz“, war aber ein Bedarf nach untergeordneter, kostengünstiger und eingeschränkt wirksamer Intelligenz. Was in diesen Beschäftigungssektoren zunächst spürbar wurde und bereits von den 1968erInnen thematisiert wurde, waren Züge jener Entfremdung, die kapitalistische Ausbeutung seit jeher charakterisieren: schwindende Kontrolle über die eigenen Arbeitsbedingungen, Vorgaben die immer weniger mit den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Arbeitenden zu tun haben, Sinnentleerung und mangelnde Identifikation mit der eigenen Tätigkeit. Zudem begannen die Lebensbedingungen dieser Lohnabhängigen nun auch von den schwankenden Bewegungen des Arbeitsmarktes abzuhängen, wie dies bereits bei geringer qualifizierten Arbeitskräften der Fall war. Die volle Tragweite jenes Prozesses der Unterordnung geistiger Arbeit unter ökonomisch diktierte Rationalität, der u.a. als „Proletarisierung intellektueller Arbeit“ analysiert wurde, sollte erst Ende des 20. Jahrhunderts deutlich werden. Doch ahnten bereits die 1968erInnen, dass die Verwendung der „technischen Intelligenz“ in Staatsapparaten, Massenmedien, Forschungslabors etc. den traditionellen Status der „Intellektuellen“ infrage stellten und wandten sich gegen „technokratische“ Reformen, welche innerhalb des Hochschulsystems die Ausdifferenzierung zwischen hochwertiger Elitenbildung und die Massenausbildung von „FachidiotInnen“ erleichtern sollten. Der Protest gegen die kapitalistische Modernisierung der Hochschule war bisher gewissermaßen immer auch der Protest des Bildungsbürgertums gegen seine Auslöschung.

Sechstens. Mit der Krise und dem allmählichen Niedergang der historischen ArbeiterInnenbewegung und linker Alternativen gerieten ab Mitte der 1970er-Jahre die herrschenden Klassen in die Offensive. Die Massenuniversität war zunehmend mit einer chronischen Unterfinanzierung konfrontiert, die es ihr erschwerte, ihren Auftrag nach einer guten Bildung für alle wahrzunehmen. Sparpakete bedienten sich u.a. gerne auch an den Förderungen für Studierende. Größere und kleinere Reformen versuchten, die Ausbildung von Studierenden kürzer und planbarer zu machen und die Autonomie von Forschung und Lehre auszuhebeln. Das Bürgertum brauchte kein „Recht auf Bildung“ und aus ihrer Perspektive war eine Massenuniversität ein teurer Luxus wenn nicht sogar eher ‚a pain in the ass‘. Wenn deren Entstehung schon nicht rückgängig gemacht werden konnte, so sollte sie zu dem verwandelt werden, was die herrschenden Klassen brauchten. Dies setzte den sukzessiven Abbau von demokratischen Errungenschaften, also die gezielte Entdemokratisierung der Universität voraus. Allerdings nicht im Sinne einer Verringerung der Studierendenzahlen, sondern im Sinne der Bestimmung ihres Schicksals „von oben“. Hatten die Studierenden die Öffnung der Hochschule gegenüber den Herausforderungen der gegenwärtigen Gesellschaft reklamiert, so konnte das Bürgertum nun proklamieren: „Die gegenwärtige Gesellschaft ist eine Marktgesellschaft und was sie von der Hochschule braucht, sind verwertbares Wissen und nützliche Arbeitskräfte!“. Der große Wurf kam um die Jahrtausendwende mit dem so genannten Bologna-Prozess und der Lissabon-Strategie: die neoliberale Umgestaltung des Hochschulsektors als Voraussetzung seiner umfassenden Eingliederung in den Verwertungszyklus des Kapitals („wissensbasiertes Wachstum“) – das Ganze mit dem unwiderstehlichen Glanz eines Prozesses „europäischer Integration“. Meisterstück war hierbei sicherlich die Lobpreisung der „Autonomie“ und die Umdeutung dieses Wortes zur Bezeichnung eines Mechanismus für die reibungslose Durchsetzung der vorgesehenen Ziele: Ja, die Hochschulen sollen autonom sein und an ihrem jeweils eigenem Profil arbeiten dürfen! Allerdings so, dass sie sich einerseits zu Vollstreckerinnen staatlicher Bildungspolitik machen um an ihre Finanzierung zu kommen („Leistungsvereinbarungen“) und zugleich die „Freiheit“ haben, ihre Forschung und Lehre den Interessen privater GeldgeberInnen anzupassen („Drittmittelfinanzierung“).[8] Wichtiges Element war hierbei auch die Reform der inneren Organisationsstrukturen der Universität, die in der Regel den Abbau von demokratischer Mitbestimmung und eine Machtkonzentration in den Händen des Rektorats bedeutete. Die Hochschule soll wie ein Unternehmen ausschauen – und Demokratie hört bekanntlich an der Türschwelle des Unternehmens auf. Die akademische Aristokratie hat sich mit den neuen Begebenheiten arrangiert. Sie legte die Talare ab und lernte neoliberales Neusprech. Durch effektives „Hochschulmanagement“ durfte sie erst recht ihre Privilegien sichern und über die Forderungen der Universitätsgemeinschaft (insbesondere die der Studierendenvertretungen) drüberfahren. Ihre Macht basiert dabei im Wesentlichen auf ihrer Kontrolle über die Verteilung der beschränkten Ressourcen: das zur Verwaltung des Mangels angehaltene Personal auf den untergeordneten Ebenen (Fakultäten, Institute) meidet die Konfrontation um die Position der eigenen Organisationseinheit bei der Aushandlung von Räumen, Geld, Aufträgen und Stellen nicht zu gefährden und möglichst weiterwurschteln zu können.[9]

DIE „WISSENSGESELLSCHAFT“ UND IHRE HOCHSCHULEN

Siebtens. Was ist die Universität also heute? Sie ist zunächst ein Standortfaktor im Rahmen eines von kurzlebigen Innovationszyklen geprägten globalen Wettbewerbs: „Ohne starke Produktentwicklung können Gewinne aus der Produktion kaum realisiert werden. Globalisierte Produktmärkte versprechen umgekehrt riesige Gewinne, sofern eine Firma technologisch die Nase vorn hat und die weltweite Vermarktung gelingt. Der aktuelle Hype um iPods, iPhones und iPads ist ein anschauliches Beispiel für diese Dynamik. Der öffentliche Wissenschaftssektor erhält unter diesen Umständen eine herausragende Bedeutung für die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Ökonomien.“[10] Als Forschungsbetrieb ist die Universität in den Vorstellungen der neoliberalen PlanerInnen also ein Dienstleistungsunternehmen, das lokale AuftraggeberInnen mit Wissen versorgt. Die Forschungsaktivität hat sich möglichst nach dem Kriterium ökonomischer Verwertbarkeit zu richten: relevant ist, was Geld bringt! Um dieser Orientierung Nachdruck zu verleihen, wurde an den österreichischen Universitäten der Universitätsrat eingeführt, ein dem Aufsichtsrat nachempfundenes Gremium, in dem vor allem nichtgewählte KapitalvertreterInnen außerordentlich weitreichende Kompetenzen bis hin zur Nominierung der/s RektorIn haben können. Zur Debatte steht somit gar nicht die schlichte Privatisierung der Universität:

Aufgrund der hohen Komplexität der modernen kapitalistischen Produktionsweise kann Forschung nicht allein von Unternehmen bewerkstelligt werden. Die anwendungsorientierte Forschung an neuen Produkten steht immer in einem Wechselverhältnis mit aufwändiger Grundlagenforschung. Weder kann jegliche Forschungsaktivität unmittelbar in Gewinne umgesetzt werden, noch ist garantiert, dass sie tatsächlich unmittelbar zu den intendierten Ergebnissen führt. Wissenschaft wird aus diesen Gründen in staatlichen Einrichtungen organisiert. Doch der staatliche Wissenschaftsapparat behält trotz dieser Ausgliederung aus der Privatwirtschaft eine ökonomische Funktion. Er bietet die Grundlage für Innovationsprozesse in Unternehmen und damit für die allgemeine Reproduktion des Kapitals. Eine dynamische Entwicklung der Produktivkräfte ist somit ohne die Arbeitsteilung zwischen Unternehmen und einem öffentlich organisierten Wissenschaftssektor kaum zu gewährleisten.[11]

Achtens. Die Massenuniversität hat aber auch eine weitere zentrale Funktion. Sie produziert nicht nur Wissenschaft, sondern vor allem auch die Ware Arbeitskraft. Und diese Funktionen sind nicht dieselben, sondern fallen tendenziell auseinander. Um sie zu trennen, ist die Bachelor/Master-Architektur eingeführt worden. In den Worten der Wirtschaftskammer, Interessensvertretung des österreichischen Kapitals, klingt das folgendermaßen: „Bachelorstudien sind als berufsqualifizierende Studien einzurichten. Sie sollen klare Bezüge zu beruflichen Aufgaben in der Wirtschaft aufweisen. Die weiterführenden Studien (Master- bzw. Doktoratsstudium) sollen entweder die erworbene Anwendungsorientierung fortführen oder als wissenschafts- bzw. forschungszentrierte Programme geführt werden.“[12] Wenn sich in den letzten Jahrzehnten der Bedarf der Wirtschaft nach UniversitätsabsolventInnen, vor allem im Dienstleistungssektor, erhöht hat, so sind damit längst nicht die AkademikerInnen von einst gemeint. In dem Maße, in dem das Kapital auf qualifizierte Arbeitskraft angewiesen ist, sieht es sich gezwungen deren Kosten zu reduzieren.

Eine wesentliche Dynamik, die den technologischen Fortschritt im Kapitalismus bedingt, ist die Vergegenständlichung der Fähigkeiten der LohnarbeiterIn in stets weiter zu entwickelnden Maschinen und die Reduktion der Arbeitstätigkeit auf standardisierte Vorgänge, welche die einzelne Arbeitskraft möglichst austauschbar und niedriger entlohnbar macht. So wie die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts den Handwerker durch die niedrig qualifizierte ArbeiterIn als Anhängsel der Maschine ersetzte, so macht die Einspeisung mathematischer Kenntnisse im Computerprogramm es heute möglich, den Computer ohne besonderes mathematisches Fachwissen für alle möglichen Aufgaben zu bedienen. Die Berufe, für die die Masse der Studierenden vorgesehen ist, sind längst von Rationalisierungsprozessen erfasst worden, welche die Arbeit tendenziell zu monotoner, ausführender Tätigkeit unter hohem Leistungs- und Konkurrenzdruck machen; sie werden unsicherer und niedriger entlohnt als bei vorigen Generationen von AkademikerInnen und gewährleisten auch nicht mehr denselben Status. Der reformierten Universitätsausbildung kommt dabei selbst eine zentrale Rolle bei der Senkung der Kosten qualifizierter Arbeit zu. Das alte Selbstverständnis der Universität und der Studierenden muss gebrochen werden – WissenschaftlerInnen sind teuer![13] Wer durch die Uniausbildung geschleust wird, soll danach keine anderen Ansprüche mehr haben als sich an den Markt zu tragen und sich dort aufgrund der eng zugeschnittenen Ausbildung billig zu verkaufen. Die Funktion der Dequalifizierung (das, was die Universität nicht mehr beibringt) ist in der neoliberalen Massenuniversität mindestens genauso wichtig wie die Qualifizierung (das Fachwissen und die Kompetenzen, die sie beibringt). Die Differenzierung des Bachelorstudiums gegenüber höherer akademischer Bildung (Master, Doktorat)[14] offenbart die Anforderungen an die „durchschnittliche Arbeitskraft“ in diesem Segment der Lohnarbeit: Flexibilität, Interaktionsfähigkeit, effiziente Verarbeitung von Wissensinhalten, Selbstständigkeit. Hochtrabende Versprechen mancher Studiengänge und die „Top-Jobs“ mancher AbsolventInnen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, warum junge Menschen studieren und was mit ihnen nach dem Studium passiert: sie tun dies primär, um miesen Arbeitsverhältnissen zu entkommen; gleichzeitig ist das durchschnittliche Hochschulstudium eine generische Ausbildung, die ein anpassungsfähiges, unterschiedlich einsetzbares Prekariat schafft. Dieses hofft ständig, durch die Ansammlung von Qualifikationen, letztendlich in sichere Positionen aufzusteigen. Wenn VertreterInnen des Kapitals wie die OECD auch für Österreich eine Erhöhung der AkademikerInnenquote fordern, so meinen sie zugleich die Produktion dieses möglichst billigen Prekariats. Wenn HochschulabsolventInnen durchaus weniger von Arbeitslosigkeit betroffen sind und besser verdienen als Arbeitende mit niedrigerem Bildungsabschluss[15], so fügt sich ihre Lage größtenteils trotzdem in den seit Jahren währenden realen Einkommensverlust der Lohnabhängigen. Trotz – bzw. gerade wegen – der „Wissensgesellschaft“ sind sie nicht vom Schicksal der ArbeiterInnenklasse entkoppelt, sondern vielmehr ein Teil von ihr.[16]

LERNARBEIT AN DEN FLIESSBÄNDERN DER MASSENUNIVERSITÄT

Neuntens. Ihre Bestimmung als Arbeitskraft in Ausbildung markiert auf entscheidende Weise die Lebensbedingungen und das Verhältnis zum Studium eines Großteils der heute Studierenden. Die Massenuniversität soll ein möglichst günstig gehaltener Zulieferungsbetrieb der Ware Arbeitskraft für die „heimische Wirtschaft“, je nach aktuellem Bedarf der lokalen Chefitäten sein. Dies ist ganz weit entfernt von einem Recht auf Bildung, bzw. einer für alle zugänglichen Universität, und einem Lernen ohne finanzielle Not. An einer umfassenden Ausbildung aller Beschäftigten ist das Kapital nicht interessiert; es gibt nach wie vor – auch und vor allem im Dienstleistungssektor – breite bzw. expandierende Beschäftigungssegmente, in denen niedrig qualifizierte Arbeit gefragt ist und kein akademischer Abschluss. Eine offene und zugängliche Hochschule würde die Zuwendung eines wesentlich höheren Teils des Nationalprodukts zugunsten des Bildungssektors erfordern, der über die Steuern zu Lasten der Profite gehen müsste – was gerade in Zeiten von Austerität und dem Ringen um Wettbewerbsfähigkeit undenkbar ist: es würde den Vorteil der Universitätsreformen für das Kapital zunichtemachen. Die Profitrate setzt auch im Bildungswesen der Demokratisierung ihre Schranken.

Die Rede über die Expansion der Hochschulbildung und die Ausschöpfung des Reservoirs an Talenten sollte daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass Auslese, nicht flächendeckende Förderung, das Grundprinzip des herrschenden Bildungssystems bleibt. Das mehrgliedrige Schulsystem und das schulische und akademische Prüfungssystem zielen darauf ab, zu steuern, welche AbsolventInnen später höher qualifizierte und bezahlte Tätigkeiten belegen dürfen. Die soziale Exklusivität der Hochschulbildung hat außerdem in den letzten Jahren zu- und nicht abgenommen. Das Bildungssystem bleibt aufgrund der Zweckbindung an den Bedarf der Unternehmen hierarchisch, und es beschränkt das Potenzial gesellschaftlicher Entwicklung: Bei gezielter Förderungen könnten heute viel mehr Menschen die Möglichkeit einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung erhalten als es derzeit der Fall ist.[17]

In der Massenuniversität unter kapitalistischen Bedingungen herrscht hingegen allgegenwärtiger Mangel. Dieser erzieht zur Entsolidarisierung und zur Konkurrenz um Plätze und Mittel: zwischen Hochschulen, zwischen Fakultäten und Instituten; vor allem auch unter den Studierenden selbst. Platznot und Studienverzögerungen, schlechte Betreuungsverhältnisse, die Arbeitsbelastung der Beschäftigten in Lehre und Verwaltung; all dies soll den Eindruck vermitteln, dass die „Masse“ die Ursache aller Missstände ist und irgendwer gar nicht hierher gehört. In Österreich hat dieser Zustand in den letzten Jahren Zugangsbeschränkungen und Studiengebühren als pragmatische Lösung erscheinen lassen. Wer es heute an die Universität schafft, ist permanent von der Gefahr des Scheiterns, des Ausselektiert-werdens bedroht. Es ist, als würde die Universität ihm sagen: „Bis hierher warst du gut genug. Aber ich werde dich ständig prüfen und wenn du nicht leistest, was ich dir sage, bist du hier zu viel und kannst dich wieder schleichen.“

Zehntens. Um den Output an „Humankapital“ mit den erwünschten Kompetenzen planbar und billig (und das heißt: kurze Studienzeiten) zu machen, wird das Studium durch die ständige Anpassung der Curricula zu einem verstärkt reglementierten und spezialisierten Ausbildungsgang, in dem die individuelle Gestaltung minimal ist. Welche Wissensinhalte angeeignet und geprüft werden steht fest. Hierbei geht es vor allem um Fachwissen, das in weiterer Folge je nach wandelndem Bedarf der Wirtschaft und ihrer Innovationszyklen aktualisiert werden soll (Lifelong Learning). Vor allem aber steht auch die vorgesehene Zeit fest. Zeit ist Geld! Die Durchlaufgeschwindigkeit hat sich wesentlich erhöht. Die „Mindeststudienzeit“ ist schon längst Regelstudienzeit; der Studienplan mit seinen Modulen ist das in dieser Zeit vorgegebene Soll. Damit sich Studierende ihrer Bestimmung als prekäre Arbeitskraft in Ausbildung fügen, sich den schnellen Taktzeiten der Massenuniversität unterwerfen, und damit die Selektion greift, sind finanzielle Not und materielle Armut ein wesentlicher Hebel. Aufgrund der Nichtanpassung der Studienbeihilfe an die Inflation verliert diese an Wert und wird hierzulande an immer weniger Studierende ausbezahlt. Studierende zählen außerdem in Österreich zu den sozialen Gruppen mit überdurchschnittlichem Anteil nicht Krankenversicherter. Immer mehr Studierende befinden sich während dem Studium zugleich mit einem Bein (oder beiden) in der Arbeitswelt, was oft zu einem Teufelskreis von Erwerbstätigkeit und Studienverzögerung führt. Eine wichtige Rolle spielen auch Studiengebühren, deren flächendeckende Einführung von den herrschenden Klassen nachdrücklich gefordert wird. Diese haben in Wirklichkeit mit der Ausfinanzierung des Bildungssystems wenig zu tun (dazu wären mehrere 10.000 Euro pro StudentIn nötig!); sie sind ein Zugriff auf das Einkommen breiter Schichten (das Studium muss selbst oder von den Eltern bezahlt werden) und verschärfen die soziale Polarisierung und Selektion innerhalb des Hochschulsystems, indem sie diejenigen bestrafen die, aus welchem Grund auch immer, langsamer studieren bzw. weniger Möglichkeiten haben, sich das Studium zu finanzieren.[18] Die Lebensbedingungen von Studierenden sind prekärer denn je und sollen nie etwas anderes gewesen sein, denn diese sind zu prekärer Arbeit bestimmt. Sie sind im Studium entmündigt und fremdbestimmt, denn der Markt (sprich das Kapital) hat immer Recht. Die (auch in Wörtern wie workload zum Ausdruck kommende) zunehmende Gleichförmigkeit von Arbeits- und Studienbedingungen ist entscheidend, um jene Entfremdung heutiger Studierendengenerationen gegenüber Studium und Universität zu begreifen, die zuweilen als Desinteresse, Apathie, Oberflächlichkeit, das LV-Niveau senkende Schlamperei oder fehlendes (uni)politisches Engagement beklagt wird. Angesichts des Leistungsdrucks, der knappen Zeit, der Angst vor Studienzeitverzögerung und der Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft erscheint es unter den Bedingungen des normalen Studienbetriebs deppert – oder individueller Luxus – etwas anderes zu tun, als worum es geht: mit möglichst geringem Aufwand (evtl. auch durch die Umgehung von Kontrollen und unter Missachtung der guten akademischen Sitten) Zeugnisse zu sammeln, die vorgeblich Kompetenzen bescheinigen. Die Bedingungen für „kritische Bildung“ werden systematisch untergraben.

Elftens. Sind die Zeiten vorbei, als StudentInnen eine Gegenmacht innerhalb der Universität darstellten und politische Kämpfe mitprägten? Im letzten Jahrzehnt haben Studierende immer wieder gegen das protestiert, was sie als „Ökonomisierung der Bildung“ bezeichneten: die Ausrichtung von Lehre und Forschung am Kriterium ökonomischer Verwertbarkeit. „Bildung ist keine Ware“, war ein immer wiederkehrender Slogan. Was oft übersehen wurde: die Studierenden sind selbst schon eine Ware. Und ihre Verwandlung in Ware vollzieht sich über die Unterdrückung der vielfältigen Dimensionen des Studierens. Studentische Mitbestimmung wurde abgebaut und die oft unter großzügigem Einsatz von StudierendenvertreterInnen geleistete Gremienarbeit verpufft oder zeitigt Ergebnisse, die unter der Wahrnehmungsgrenze der Mehrheit der Studierenden liegen. Die eigene Dequalifizierung wird auch von vielen erkannt, und nicht selten beteiligen sich StudentInnen an Diskussionsveranstaltungen, Vortragsreihen oder Lesekreisen am Rande des Studienbetriebs, in denen sie etwa über ihre jeweilige wissenschaftliche Disziplin und ihre Anwendungen in der Gesellschaft reflektieren. Manchmal schaffen sie es gar, anrechenbare Lehrveranstaltungen mit alternativen Inhalten zu organisieren. Dennoch: in der Lernfabrik verkommt auch das „kritischste Wissen“ zum Prüfungsstoff der x-ten Lehrveranstaltung im y-ten Modul, welches die Studierenden in möglichst kurzer Zeit abzufertigen haben. Ihre disziplinierende Funktion sichert die Massenuniversität nur zweitrangig über bestimmte („neoliberale“) Lehrinhalte. Diese sollen ja in Wirklichkeit austauschbar und je nach Bedarf aktualisierbar sein. Wesentlich ist hingegen die Form: die Organisation des Lehrbetriebs und insbesondere die Kontrolle über die Zeit der Studierenden. Die Rückeroberung von Zeit wird ein unmittelbares Bedürfnis der so Disziplinierten und eine strategische Hauptachse für studentische Kämpfe.

VOM TAGTÄGLICHEN KAMPF BIS ZUM POLITISCHEN KIPP-PUNKT

Zwölftens. Wenn es über weite Strecken so aussieht, als hätten Studierende heute ihr Schicksal hingenommen und sich den Zielen und dem Rhythmus der Lernfabrik gebeugt, so beweist dies nur wie wichtig und brisant heute ein Kampf innerhalb der und gegen diese Lernfabrik ist. Bologna kann allerdings nicht einfach rückgängig gemacht werden, im Namen einer Idee von „Bildung“, die es so, wie sie historisch verfasst war, heute nicht mehr geben kann. Bologna muss ausgehebelt werden, und zwar aufgrund der materiellen Bedürfnisse und Ansprüche der heutigen MassenstudentInnen selbst. Unzureichende Ausstattung und mangelnde Plätze verzögern das Studium und heizen Konkurrenz und Selektion an? Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen und setzen uns gemeinsam für bessere Studienbedingungen ein, gegen KnockOut-Prüfungen und für das Recht auf ein Masterstudium für alle BachelorabsolventInnen; für die Orientierung des Lehrangebotes am Bedarf der Studierenden. Der Leistungsdruck eines streng reglementierten Studienplans lässt keine Zeit für gescheites Lernen, für die Auseinandersetzung mit interessanten Inhalten und für die Sicherung des Lebensunterhalts? Wir kämpfen gegen die Überfrachtung und für mehr Flexibilität im Studium; für eine bessere Auswahl unter Parallel-Lehrveranstaltungen oder auch für die Verlängerung der Mindeststudienzeit („langsamer studieren dürfen!“), gegen eine noch stärkere Straffung von Lehrinhalten. Zugleich verlangen wir die soziale Absicherung für Studierende, kämpfen wir gegen Studiengebühren und gegen unsere Abhängigkeit vom Geldbörsel und dem Gutdünken der Eltern, aber auch für die Möglichkeit eines Teilzeitstudiums für Erwerbstätige. Auf der Universität gibt es nicht genug Raum für Lernen und Gruppenarbeiten? Wir kämpfen um offene und selbstverwaltete (Lern-)Räume und forcieren die Diskussion, für welche Interessen auf Uni und FH wie viel Platz ist und wer darüber bestimmen darf. Und so weiter. Wir wissen klein anzufangen. Initiativen, die die Vereinzelung aufheben und einen kollektiven Kampf für noch so kleine erreichbare Ziele lostreten, sind zugleich Anknüpfungspunkte für eine tiefer gehende Kritik und für weiterreichende Vernetzungen, sind Ausgangspunkte für das Ringen um weitere Verbesserungen. Der Kampf gegen die Zwänge des Fließbands macht auf dieses erst aufmerksam.

Dreizehntens. Geschenkt bekommen wir nichts. Um nachhaltigere Veränderungen im Studium und in der Lage der Studierenden durchzusetzen, ist deren massive, studienübergreifende und selbstorganisierte Mobilisierung notwendig. Unibrennt hat klar gemacht, dass das auch hierzulande möglich und notwendig ist. Zugleich hat unibrennt (gerade auch über ihr Scheitern) einiges über die Form und Voraussetzungen solcher Bewegungen im heutigen Zeitalter offenbart: sie gestalten sich als unerwartete (aber nicht unvorbereitete), zeitweilige Ausbrüche. Ausbrüche der Empörung; Ausbrüche aus dem System entfremdeter Lernarbeit; Ausbrüche der MassenstudentInnen aus der Lernfabrik, auf die Straßen, in die Stadt. Die Ausweitung des Protests hängt von der Perspektive auf Erfolg ab und diese konkretisiert sich in der Diskussion um Ziele und Mittel: wie erhöhen wir den Druck, um Forderungen durchzusetzen? Die Bereitschaft der Vielen, sich für bestimmte Ziele aufs Spiel zu setzen und zu organisieren, ist auch die Bedingung für einen Studierendenstreik, der tatsächlich imstande ist, den Studienbetrieb auszusetzen. Eine effektive Blockade des Fließbandes in der Lernfabrik ermöglicht erst die Beteiligung am Protest, ohne dass die/der Einzelne dafür bestraft wird oder Prüfungen verpasst, und setzt in neuem Ausmaß Raum und Energien für kollektive Organisierung und Aktion frei.[19] Entscheidend für das Zustandekommen und den Erfolg solcher Massenbewegungen sind jedenfalls vorangegangene Protesterfahrungen und ein darin gereiftes Verständnis über die Widersprüche der Massenuniversität, welches zum entscheidenden Zeitpunkt von einem weit größeren Kreis an StudentInnen angeeignet werden kann. Gerade der beschleunigte Durchlauf in der heutigen Hochschule und das sich daraus ergebende verkürzte kollektive Gedächtnis der Studierenden macht die Kontinuität politischer Organisierung notwendig, in der Wissen und Erfahrung von Generation zu Generation weitergegeben werden.

Vierzehntens. Die Analyse der gegenwärtigen Hochschule hat gezeigt: die Verhältnisse an den Unis sind nicht unvernünftige Vernachlässigung der „Bildung“, sondern entsprechen der Bildung unter den gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen. Sagen wir’s wie’s ist: Was wir uns heute erkämpfen, in Form von Zeit, Bildungsinvestitionen, finanzieller Absicherung oder nicht unmittelbar verwertbaren Lerninhalten, macht uns teurer für das Kapital und nagt an seiner „Wettbewerbsfähigkeit“; etwa so wie Urlaubsgeld, Sozialabgaben oder ArbeiternehmerInnenschutz. Was wir an Mitbestimmung gewinnen, verliert die Hochschule an „effizienten Managementstrukturen“, die doch die Rentabilität von Bildungsinvestitionen zu optimieren haben. Dementsprechend bleibt jede soziale oder demokratische Errungenschaft, die der kapitalistischen Funktion der Hochschule zuwiderläuft, von Angriff oder Aushöhlung bedroht. Die Universität kann auch nicht gänzlich zu etwas anderem werden, als diese Gesellschaft erlaubt. Das fortschrittliche Potential der Wissenschaft zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist damit konfrontiert, dass ihre Anwendung außerhalb der Universität geschieht, wo das beschränkte Privatinteresse vorherrscht. Auch kann die Hochschule nicht völlig von ihrem Auftrag der Ausbildung absehen; ein Studium, das nicht qualifiziert, d.h. zu einem guten Arbeitsplatz befähigt, ist wohl für die Wenigsten denkbar – nach dem Studium sind wir auf einen Job angewiesen. Es sind aber nach wie vor weitgehend die Bedürfnisse der KapitalistInnen, die bestimmen, was Ausbildung bzw. Qualifikation ist und wie viele Arbeitskräfte für welche Tätigkeiten notwendig sind. Zu ihren vollen Möglichkeiten gelangen Wissenschaft und Bildung nur in einer freien Gesellschaft. Dort wollen wir auch hin! Dazu braucht es perspektivisch den Zusammenschluss aller gesellschaftlichen Kräfte, die, um ihre eigene Lage zu verändern, die gesamte Gesellschaft umwälzen müssen.

Fünfzehntens. Wollen wir etwas nachhaltig verändern, müssen wir die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse umwerfen und dies erfordert breite Zusammenschlüsse, die die herrschende Politik infrage stellen. Dass dies gelingt hängt nicht nur von den Kämpfen an der Universität ab, doch sollten wir unser Bestes dafür tun! Studierende haben die Angriffe auf ihre Lebens- und Studienbedingungen nicht auf sich sitzen lassen. Die Jahre der neoliberalen Hochschulreformen waren die Jahre, an denen auch StudentInnenrevolten an die Tagesordnung zurückgekehrt sind. Quantitativ gesehen übertrafen diese wohl bei Weitem die rebellierenden StudentInnen von 1968. Ihre politische Sprengkraft erlangten sie dadurch, dass sie einen weitaus größeren Kreis von Menschen anzusprechen vermochten und dazu neigten, sich – über Bündnisse mit außeruniversitären Kräften –zu allgemeinen Protestbewegungen zu entwickeln. Die Bewegung der indignad@s („Empörten“), die mit ihren der ägyptischen Revolution nachempfundenen Platzbesetzungen den Startschuss für die sozialen Kämpfe gegen die neoliberale Diktatur in Spanien gab, ist beispielsweise nicht ohne ihre studentischen Vorläufer zu denken: das Netzwerk „Jugend ohne Zukunft“ und die Kämpfe gegen den Bologna-Prozess. Der Zugriff des Kapitals auf die Universität macht es für diese zunehmend unmöglich, sich als abgekapselter, „über den Verhältnissen stehender“ Raum zu gebärden. Doch das Kapital schafft bekanntlich überall auch seine TotengräberInnen. Trotz noch nie dagewesenen Reichtums wird in den kapitalistischen Metropolen eine ganze Generation in schlechtere Lebensverhältnisse gedrängt als ihre Eltern. Während die einen keine Arbeit zum Leben finden, lässt den anderen ihre Arbeit kein Leben. Diejenigen, die sich heute durch die Universitäten schlagen, sind auf ihre Art davon nicht ausgenommen; sie gehören wohl zu jenen, bei denen die Kluft am größten ist zwischen den Versprechen der neuen „Wissensgesellschaft“ und der tatsächlich erlebten Realität. Ihre Revolten drohen sich zur allgemeinen Revolte der Jugend auszuweiten und beispielgebend auf weitere Teile der Gesellschaft zu wirken. Die Hochschule kann in diesem Rahmen zum Ort für die Organisierung einer Bewegung mutieren, die weit über rein studentische Belange hinausreicht und dazu beiträgt, die Frage einer solidarischen Gesellschaft tatsächlich auf die Tagesordnung zu setzen. Es braucht auch auf Unis und FHs Formen politischer Organisierung, die den tagtäglichen Auseinandersetzungen innerhalb der Lernfabrik diese Perspektive zugrundelegen. Sie ist die beste Anleitung für Erfolge im Hier und Jetzt.

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[1] Leo Trotzki, Die Intellektuellen und der Sozialismus. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1910/xx/intellekt.htm

[2] Wenn sie dann ihr Studium abgeschlossen haben, integrieren sich viele StudentInnen, die rebelliert haben, und wissen vielleicht auch ihre „aktivistische“ Erfahrungen dafür zu nützen; jene in Mobilisierungen und Bewegungen erlernte Fähigkeit, zu kommunizieren, eine Gruppe zusammenzuhalten und zu führen, welche heutzutage am Arbeitsmarkt besonders gefragt ist bzw. in der Verwaltung des Staates gut gebraucht werden kann (Stichwort SoftSkills).

[3] Es soll ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass „marginal“ nicht dasselbe wie „arm“ oder „depriviert“ ist, sondern eine Position im Verhältnis zum kulturellen, sozialen, produktiven System bezeichnet. Die Kategorie der „Marginalität“ erweist sich möglicherweise als sehr nützlich, um die Geschichte und Zusammensetzung historischer Befreiungsbewegungen besser zu verstehen: „Der Marxismus war in seinen Anfängen zu einem großen Teil – heute natürlich nicht mehr – ein jüdisches Phänomen, genauso wie die Psychoanalyse. Sie werden im Wesentlichen von einer Schicht nicht integrierter bzw. nicht integrierbarer Intellektueller in die Welt gesetzt. (…) Der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Lebenssituation und der Entwicklung von Formen radikaler Kritik betrifft nicht nur Juden/Jüdinnen: in Russland spielte der deklassierte Kleinadel eine ähnliche, wenn auch quantitativ mindere Rolle. Lenin ist zum Beispiel nicht jüdischer Herkunft, sondern kommt aus dem deklassierten Kleinadel. Und eine vergleichbare Rolle in der Frauenbewegung spielten Lesben, die den harten Kern des Feminismus bildeten; wahrhaftige organische Intellektuelle des Geschlechts. Diese Feststellungen ziehen auf keiner Weise die Gleichsetzung von Feministin und Lesbe oder von RevolutionärIn und JüdIn nach sich, sondern zeigen dass in bestimmten Momenten der Geschichte Marginalitäten unterschiedlicher Art zu einem gemeinsamen Horizont verschmelzen, in einem Prozess der gegenseitigen Identifikation, der einiges über die Geschichte emanzipatorischer Subjekte erklärt.“ (Lidia Cirillo, Obsolescenza e attualità della forma partito, relazione inedita tenuta al seminario giovani della rivista „Erre“ svoltosi dal 20 al 22 maggio del 2005 a Roma. Eig. Übers.).

[4] Vgl. Statistik Austria, Ordentliche Studierende an öffentlichen Universitäten 1955 – 2013.

[5] Vgl. OECD, Bildung auf einen Blick 2014.

[6] Interessant ist in diesem Zusammenhang z.B., dass die italienische 1968er Bewegung von den SoziologiestudentInnen Trentos (Trient) ausging, wo es seit einigen Jahren erstmals für AbsolventInnen technischer Mittelschulen möglich war, bestimmte Fächer (wie eben Soziologie) an der Uni zu inskribieren.

[7] Zur Ausbildung solcher technischer Angestellter wurden in Deutschland (und später in Österreich) auch Fachhochschulen geschaffen, die eine wichtige Komponente des Hochschulsektors geworden sind. Die oben skizzierte Entwicklung war im Grunde bereits in Karl Marx‘ Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses vorweggenommen worden: „Da mit der Entwicklung der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital oder der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise nicht der einzelne Arbeiter, sondern mehr und mehr ein sozial kombiniertes Arbeitsvermögen der wirkliche Funktionär des Gesamtarbeitsprozesses wird, und die verschiedenen Arbeitsvermögen, die konkurrieren, und die gesamte produktive Maschine bilden, in sehr verschiedener Weise an dem unmittelbaren Prozess der Waren- oder besser hier Produktbildung teilnehmen, der eine mehr mit der Hand, der andre mehr mit dem Kopf arbeitet, der eine als manager, engineer, Technolog etc., der andre als overlooker, der dritte als direkter Handarbeiter, oder gar bloss Handlanger, so werden mehr und mehr Funktionen von Arbeitsvermögen unter den unmittelbaren Begriff der produktiven Arbeit und ihre Träger unter den Begriff der produktiven Arbeiter, direkt vom Kapital ausgebeuteter und seinem Verwertungs- und Produktionsprozess überhaupt untergeordneter Arbeiter einrangiert.“ Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marxengels/1863/resultate/1mehrwert.htm

[8] Die „Autonomie“ hat auch eine andere nicht zu unterschätzende Wirkung: sie zersetzt tendenziell die Front der Studierenden. War früher die Regierung unmittelbarer Konterpart für viele ihrer Forderungen, so spielen sich durch die Verlagerungen von Kompetenzen viele Entscheidungen, die die Studien- und Lebensbedingungen der Studierenden berühren, innerhalb der einzelnen Unis selber ab: schwieriger, dass sich ein landesweiter Protest entfacht, wenn jede Universität zu unterschiedlichen Zeitpunkten Zugangskriterien festlegt oder die Höhe der Studiengebühren festsetzt. Die Autonomie erleichtert außerdem paradoxerweise das, was hierzulande die beliebteste Attitüde leitender Funktionäre ist: sich aus der Verantwortung zu nehmen. Beim Aufflammen von Protesten von Studierenden und Lehrpersonal bot sich in den letzten Jahren immer das gleiche Schauspiel: „Das Ministerium verteidigt die eigenen Angriffe als Reformen, die an sich gut, aber von den ‚autonomen‘ Universitäten schlecht umgesetzt wären (wie bei der Debatte rund um die Bologna-Architektur). Die RektorInnen und DekanInnen wollen ihre gezielten Maßnahmen gegen freies Studieren, selbstverwaltete Räume und demokratische Mitbestimmung mit dem Argument der Ressourcennot durchsetzen, für die doch leider die Regierung verantwortlich sei (und diese jammern sie periodisch in öffentlichen Briefen und Auftritten an).“ (Linkes Hochschulnetz, Ernten der Krise. http://www.perspektivenonline.at/2011/10/04/erntenderkrise/).

[9] Unibrennt hat gezeigt wie massive Studierendenproteste Bewegung in diese autoritäre Struktur bringen können, indem sie zum möglichen Kristallisationspunkt der Unzufriedenheit aller möglichen Universitätsangehörigen gegenüber der neoliberalen Hochschule werden. Der Protest wurde u.a. von vielen InstitutsleiterInnen toleriert bis öffentlich unterstützt, teilweise mit praktischen Maßnahmen wie der allgemeinen Aussetzung der Anwesenheitspflicht bei Lehrveranstaltungen, um die Teilnahme der Studierenden am Protest zu ermöglichen.

[10] Nicole Gohlke / Florian Butollo, Hochschule im Kapitalismus. Ursachen der neoliberalen Hochschulreform und Gegenstrategien. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2012, S. 20.

[11] Ebd.: 21.

[12] Wirtschaftskammer Österreich, Starke Bildung. Starker Standort. Bildung in Österreich. Positionen und Forderungen, S.37. https://www.wko.at/Content.Node/Interessenvertretung/AusundWeiterbildung/1367496

[13] Dass der Reformprozess nicht ganz so schnell und reibungslos vonstatten geht, zeigt sich etwa auch an dem Anspruch der Fachhochschulen auf Angleichung an die Universitäten, um die nach wie vor bestehenden Vorzüge dieses Status genießen zu dürfen. Die WKÖ jammert: „Als in Österreich mit jahrzehntelanger Verspätung der Fachhochschulsektor etabliert wurde, sah sich dieser genötigt, lediglich jene Studienangebote aufzugreifen, die noch nicht Gegenstand berufs- und anwendungsorientierter Universitätsstudien geworden waren. Dies führte sehr schnell zu Bestrebungen, auch Fachhochschulstudien mit demselben Verständnis wie Universitätsstudien zu versehen. Diesem Selbstverständnis folgend gelten in Österreich derzeit alle ordentlichen Hochschulstudien als „akademisch“ bzw. „wissenschaftlich“ und nicht als Berufsausbildung im Sinne der Erfordernisse des Arbeitsmarktes.“ Wirtschaftskammer Österreich, Starke Bildung. Starker Standort, S. 35.

[14] Trotz diesbezüglicher Absichten bei der Einführung der Bachelor/Master-Architektur haben sich die Studierenden nicht aussieben lassen. Angesichts der unbefriedigenden Möglichkeiten, die ein Bachelorstudium am Arbeitsmarkt verschafft, treten auch in Österreich 80% der AbsolventInnen in ein Masterstudium ein. Dennoch haben die Universitätsreformen der letzten Jahre die Möglichkeit einer Differenzierung der Masterstudiengänge über die Schaffung zugangsbeschränkter „Elitenmaster“ geschaffen. Zur Ausdifferenzierung innerhalb der Hochschulen kommt zudem auch die Ausdifferenzierung zwischen ihnen hinzu: Die Ausbildung der Wissenselite wird etwa durch die Schaffung hochdotierter und selektiver „Exzellenzcluster“ (sprich: Eliteunis) abseits der Massenausbildung forciert. Für letztere ist aus Perspektive des Kapitals im Grunde die Fachhochschule das Modell, dem sich auch die Massenuniversitäten angleichen sollen.

[15] Dieser Unterschied muss allerdings anhand der Klassenunterschiede und der entsprechenden Einkommensspreizung relativiert werden, die sich hinter formell gleichen Titeln verbergen. Ein Teil der UniversitätsabsolventInnen kommt aus den bürgerlichen Klassen und ist auch wieder dorthin bestimmt. Einerseits kaufen sich Bonzenkinder den notwendigen Titel um zur Elite zu gehören in privaten Hochschulen. Bei der Konkurrenz um die Besetzung der höheren Posten in Wissenschaft, Wirtschaft und Staat sind zum anderen die Kinder dieser sozialen Schichten bevorzugt (siehe Pierre Bourdieu). Ein wachsender Anteil von AbsolventInnen findet sich hingegen über lange Strecken in beschissenen Arbeitsverhältnissen und Perioden der Arbeitslosigkeit wieder, die sie eher unter dem Niveau der „respektablen“ ArbeiterInnenklasse verortet.

[16] Dies ist auch durch eine weitere Tendenz in den Ländern mit hoher AkademikerInnenquote bedingt: die Beschäftigung von AkademikerInnen in Positionen, für die früher eine niedrigere Qualifikation (Matura oder ähnliches) gereicht hat. Bei erhöhtem Andrang auf relativ gute Arbeitsplätze werden oft nicht die Löhne gesenkt, sondern die Qualifikationsanforderungen erhöht. Angesichts der tatsächlich vorhandenen Arbeitsplätze und der Personalrekrutierungsstrategien des Kapitals fungiert der Bildungstitel also mehr als Instrument zur Reihung der Lohnabängigen und weniger als Qualifikation, die einen bestimmten Beschäftigungsstatus garantieren würde.

[17] Nicole Gohlke / Florian Butollo, Hochschule im Kapitalismus, S. 29.

[18] Die herrschende Klasse ist allerdings der möglichst umfangreichen Abwälzung der Kosten des Hochschulsystems auf Studierende und ihre Familien nicht abgeneigt. Das Lieblingsmodell für die Bezahlung astronomischer Studiengebühren ist hierbei der Kredit an Studierende. Anstatt also bereits vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum umzuverteilen werden auch hier aktuelle Bedürfnisse mit der Spekulation auf künftige Verwertung finanziert. Die Studierenden selbst werden dabei zum Spekulationsobjekt: Das Finanzkapital leiht ihnen Geld gegen die Verpflichtung, es mit ihrem künftigen Lohn zurückzuzahlen. Dies setzt u.a. voraus, dass die Beschäftigungskonjunktur zieht. Geht die Spekulation nicht auf, weil die Verwertung doch nicht funktioniert hat und die Arbeitsplätze verpuffen, bleibt die Schuld (in ihrer ökonomischen und moralischen Bedeutung) an den Ausgebildeten hängen.

[19] Es war dies wohl der Schritt, den Unibrennt im Unterschied zu anderen StudentInnenbewegungen verabsäumt hat. Wenn Unibrennt die typische Form einer Wiederaneignung der Studierenden ihrer durch die Reduktion auf Ware unterdrückten Potenziale hatte (kollektive Intelligenz, Kooperation, Solidarität, kritische Intervention in der politischen Debatte), so war sie sich andererseits nicht über ihre eigenen Existenzbedingungen im Klaren und musste deswegen sehr schnell wieder von dem unerbittlichen Rhythmus der Lernfabrik verschluckt werden. Zurück blieb sehr schnell ein politisierter Kern an AktivistInnen, die allerdings immerhin auch in weiteren Bereichen aktiv wurden und in den folgenden Jahren vielerlei positive Akzente setzen konnten (Flüchtlingssolidarität, Antifaschismus, …).

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