Leistungsorientiert, egal wie!

Schule China

Nach der Massenproduktion von Lebensmitteln („We Feed the World“) und dem weltweiten Finanzsystem („Let’s Make Money“) widmet sich Erwin Wagenhofer in seinem neuesten Werk „alphabet“ dem Bildungssystem.

Konkret beschreibt „Alphabet“ Probleme des aktuellen Schulsystems und seine Verschlechterung in den letzten zwei Jahrzehnten.

Der Film beginnt mit der Aussage von Ken Robinson, dass sich der Mensch von der Tierwelt dahingehend unterscheidet, dass er Vorstellungskraft besitzt und dass diese Vorstellungskraft durch die Schule in den Kindern systematisch zerstört wird.

Diese Aussage wird direkt in mehreren Ländern überprüft: So wird beispielsweise eine chinesische Stadtschule gezeigt, in der die Schüler*innen strikt auf Mathematik-Olympiaden vorbereitet werden. Andererseits wird eine Schule gezeigt, in der die Kinder von Wanderarbeiter*innen unterrichtet werden, welche noch deutlich verspielter und weniger „zugerichtet“ sind.

In Frankreich bekommt der*die Zuschauer*in Einblick in die „Malstube“ der PädagogInnen Arno und Eléonore Stern, deren es Anliegen seit Ende der 50er-Jahre ist, Kindern die Möglichkeit zu geben, unbeeinflusst zu malen. Arno Stern stellt fest, dass zu Beginn seiner Tätigkeit als „Diener der Malstube“ Kinder immer wieder dieselben Motive zu Papier brachten, da sie an diesen Motiven und ihrem Entstehungsprozess Freude hatten. In den letzten 20-30 Jahren dagegen nehmen abstrakte Motive zu, die an den vermeintlichen Erwartungen der Erwachsenen orientiert sind.

Immer wieder werden im Film Verbindungen zu Entwicklungen im Kapitalismus, der Etablierung des Neoliberalismus und damit der Vermarktung des öffentlichen Dienstes anhand von Beispielen sichtbar gemacht, auch wenn diese Verbindungen kaum direkt thematisiert werden.

So wird beispielsweise vom chinesischen Pädagogen und Berater der chinesischen Regierung Yang Dongping beklagt, dass das Bildungssystem mittlerweile ein wichtiges Wirtschaftsfeld ist und es immer mehr börsennotierte Nachhilfefirmen gibt.

In einem weiteren Beispiel wird der OECD-Pisa-Beauftragte Andreas Schleicher bei einem Besuch auf einer chinesischen Elite-Schule begleitet. Die Schüler*innen müssen in Kauf nehmen, keine Freizeit außerhalb der Schule zu verbringen, um ihren Schulabschluss in 8 statt 10 Jahren zu schaffen. Er nimmt das zwar zur Kenntnis, findet es aber mit einem flapsigen „But it’s worth it…“ nicht weiter schlimm.

Auch Teile des Managements äußern Bedenken gegenüber den Entwicklungen im Bildungssystem. Der Ex-Personalchef der deutschen Telekom Thomas Sattelberger sieht beispielsweise eine Verkürzung der Bildung auf ökonomische Bedürfnisse. Da seiner Ansicht nach aber niemand „die Revolution von unten“ wolle, müsse eine „Revolution von oben“ her.

Wagenhofer dokumentiert Ideen, wie das Bildungssystem geändert werden könnte: Sämtliche Lösungsvorschläge richten sich ausschließlich an die jeweiligen Regierungen, wie die von Sattelberger geforderte top-down „Revolution“. Dahinter stecken die Illusion und die Erwartung, dass der Staat für ein gutes Bildungssystem sorgen muss. Vom Staat bzw. den Regierungen wird von einer Mehrheit der Menschen erwartet, dass sie gesamtgesellschaftliche Interessen vertreten. Appelle an staatliche Institutionen sind aber nicht vergeblich – ganz im Gegenteil – aber letztendlich führt die Auseinandersetzung mit dem Staat nicht zum Ausgleich von Klasseninteressen, sondern ist ein Kampf darum, Interessen durchzusetzen.

Die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten werden nur sehr peripher behandelt. Es wird kaum angesprochen, dass Kinder von Familien, die es sich leisten können, Elite-Schulen besuchen und Kinder von weniger wohlhabenden Familien „nur“ normale Schulen besuchen. Die Reproduktion der gesellschaftlichen Klassen über das Bildungssystem wird daher nicht thematisiert.

Kinder Wald

Ein Gegenmodell zum herrschenden Schulsystem wird in der Person von André Stern, dem Sohn von Arno und Eléonore Stern, präsentiert. Dieser besuchte nie eine Schule und lernte nur aus eigenem Antrieb heraus und aus Anregungen durch die Umwelt. Er spricht mehrere Sprachen flüssig, arbeitet als Gitarrenbauer und möchte auch für sein Kind, dass dieses ohne Schule aufwächst. Dass es sich bei weitem nicht für alle Familien ausgeht, Kinder zuhause zu behalten und sie dort zu unterrichten oder auch beim selbstbestimmten lernen zu begleiten, wird nicht einmal ansatzweise hinterfragt. Genauso wenig wird hinterfragt, dass damit die Kinderbetreuung von der Familie und somit zum größten Teil von Frauen geleistet werden muss. Ein besseres Beispiel wären andere Schul- oder Lernprojekte gewesen, in denen miteinander und kollektiv die unterschiedlichen Interessen und Neigungen von Kindern berücksichtigt werden könnten.

Direkt daran angereiht muss sich der Film den Vorwurf gefallen lassen, dass praktisch ausschließlich Männer als Experten auftreten. Elénore Stern wird nur dabei gezeigt, wie sie mit ihrem Mann die Farben vorbereitet und wie sie mit ihrem kleinen Enkelkind spielt. Die einzige weibliche Person, die im Film ihre Meinung ausführlicher vortragen kann, ist ein 14jähriges Mädchen, dass sich in einem Brief über das übermäßigen Stress produzierende deutsche Schulsystem beschwert.

Wagenhofer beklagt sich über die Verschlechterungen im Schulsystem, kann aber nur oberflächlich feststellen, was die Ursachen sind. Eine Ursache nennt er: Bildung ist den Notwendigkeiten der herrschenden Ökonomie unterworfen. Das stimmt, bleibt aber zu abstrakt. Ein anschaulicheres Beispiel, wie konkret in das Bildungssystem eingegriffen wird, wäre der Bologna-Prozess gewesen. Angeblich um Abschlüsse vergleichbar zu machen, reduziert er die Studienzeit, führt Aufnahmeprüfungen an Universitäten ein, die angeblich überlaufen sind, denen es lediglich an der Finanzierung fehlt. Studierende jagen sogenannten ECTS-Punkten nach und gestalten ihr Studium ebenfalls nach ökonomischen Gesichtspunkten.

Der*die ZuschauerIn darf sich von „alphabet“ also nicht viel Neues erwarten, es werden verschiedenste Bildungsmodelle und -probleme vorgestellt, ohne dass näher darauf eingegangen wird. Die vorgestellten Lösungen scheinen auf den ersten Blick wunderbar, bei genauerer Betrachtung entpuppen sich diese aber als unzulänglich und nicht durchführbar.

Wenn man den Trailer gesehen hat, weiß man ziemlich genau was vom Film zu erwarten ist und kann sich das Eintrittsgeld ins Kino wohl getrost sparen.

Trailer

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